Samstag, 3. April 2010

Ki-Notes

Ich war vor kurzem für ein paar Stunden in Berlin (und verbunden damit ein paar Stunden mehr im ICE) und habe die Gelegenheit genutzt, mir unterwegs die ungefähr drei Stunden Berlinale Keynotes zur Zukunft des Kinos anzuschauen und mir dazu meine Gedanken zu machen.

Alles in allem waren Vorträge und Diskussion wenig erleuchtend. Was etwa soll man von dem Statement halten, dass 3D die Wahrnehmung des Films ändert, weil es aufregender sei? Ist „aufregender“ neuerdings eine grundlegende Wahrnehmungsänderung?

Kunst kommt nicht von Können

Gut gemeint war sicher auch der Kommentar, dass Kinos ein „environment for art“ seien. Dabei kann man durchaus darüber streiten, ob Film per se Kunst ist. Mit den Worten des Filmrestaurators Nicola Mazzanti, die ich immer wieder gerne zitiere: „Film is not art. But there are films which are meant to be art.“ Es gibt solche und solche Filme. Ich sehe auch gerne mal welche, bei denen ich ohne zu Zögern zugebe, dass sie keine Kunst sind – selbst wenn sie vielleicht handwerklich oder inhaltlich solide gemacht sind. Es mag filmpolitische Hintergründe haben, Film als Ganzes immer gleich als Kunst hinzustellen. Die Gleichsetzung von Film mit Kunst ist ein filmpolitischer Reflex. Solange die per Programmpreis subventionierten Kinos sich überwiegend dem anspruchsvollen Film widmen, lasse ich das gerne gelten. Aber die Grenzen sind da schon sehr fließend – deswegen auch „überwiegend“ und „anspruchsvoll“. Ein „ausschließlich“ und „Kunst“ trifft wenn überhaupt nur auf Einzelne zu.

Wer hat’s erfunden? – Auf jeden Fall nicht die Schweizer

Ebenfalls zum Topos des Kinos ist es geworden, wechselweise den 1. November 1895 und den 28. Dezember 1895 als Geburtsstunde des Kinos zu bezeichnen. Auch in den Keynotes fällt mal das eine, mal das andere Datum. Grundsätzlich kann man beide Daten aus zweierlei Perspektive bewerten: aus der Technikgeschichte des Mediums heraus und aus der Konkurrenzsituation zweier technischer Lösungsansätze im Jahre 1895. Aus der ersten Perspektive sind beide Daten nur relativ beliebige Punkte auf einem langen Weg, auf dem sich verschiedenste Beobachtungen und Erfindungen physikalischer, chemischer und mechanischer Art – camera obscura, laterna magica, Fotografie und viele mehr – zu einer neuen Apparatur verbinden. Einer Apparatur, zu der es viele verschiedene Varianten gibt. Zwei davon sind das Bioskop der Skladanowskys und der Cinématographe der Lumières. Beiden ist gemein, dass mit ihnen zum ersten Mal etwas hergestellt wird, was der Kinosituation, wie wir sie heute noch kennen sehr nahe kommt (in Berlin etwas früher als in Paris). Technisch sind sie sehr unterschiedlich, der Cinématographe ist deutlich ausgereifter und entwicklungsfähiger. Seinem Funktionsprinzip folgt die bis heute eingesetzte 35mm-Technik. Also: Erfinder des Kinos – keiner von beiden, weil zu viele elementare frühere Erfindungen, auf denen die Technik aufbaut, vernachlässigt würde; erste öffentliche Filmvorführung – vermutlich Skladanowsky; Erfinder der bis heute verwendeten Technologie – Lumière. Setzen Sie Ihre Prioritäten bitte selbst. Eins der besten Werke zur Technikgeschichte des Films ist übrigens „Audiovisionen“ von Siegfried Zielinski.

Zurück in die Zukunft

Ein großer Teil der Berlinale Keynotes drehte sich um Kinoarchitektur. Vorrangiges Symptom des Niedergangs: Kinos werden nicht mehr Filmtheater, sondern Multiplex genannt. Das zieht die üblichen Vergleiche mit sich. Sie sind nicht unbedingt originell oder stichhaltig, aber unterhaltsam formuliert. Multiplex-Bashing à la Wolfgang Novak klingt z.B. so: „Multiplex architecture is modeled on boxes, which normally are used for fast food. […] People digesting their food have become the […] soundtrack. Multiplexes accelerate the meaninglessness of cinemas.“ Er stellt die Frage: wo sind die Architekten, die Kino wieder zu einem Ort urbanen Lebens machen können? - - Gegenfrage: ist es urbanes Leben nicht zunächst mal eine Frage der Stadtplanung und dann der Architektur?

Stararchitekt Norman Foster erinnert sich mit Wehmut an seine Kindheit: „When designing for the future, I also have to look at the past.” Auf die Glanzzeit des Kinos zu blicken, kann sicherlich eine wichtige Inspiration geben. Aber wir müssen das Kino auch neu denken, zeit-gemäß und an die gegenwärtige Kultur und Gesellschaft angepasst. Kino war damals nicht nur architektonisch anders. Es erhielt auch einen anderen Rahmen durch den Service und das Ambiente, das dort geschaffen wurde. Livriertes Personal, Garderoben, Erfrischungstheken, Filmvorführungen mit Pause zum Flanieren, farbige Licht- und Wasserspiele im Vorprogramm wurden geboten. Norman Foster erzählt, wie Kino Glamour in die Welt der Arbeiter brachte. Seinen Höhepunkt erreichte das Kino in den USA in den 30er und 40er Jahren, in Deutschland in den 50ern. „The combination of the car and the falling attendancies in the 50ies, 60ies and 70ies finally put the knife in the cinema as we know it.” Heute sind Multiplexe eine “kafka-like world of little boxes”. Und der Verfall geht weiter. Filme kann man auf dem Handy, im Auto oder wo auch immer im Privaten sehen. „Does that hasten the death oft he cinema? I don’t believe it does. I’m sure we have the potential to re-invent the cinema to bring it in a way to a new era,” so Foster. Als Beleg dafür sieht er unter anderem steigende Box-Office-Zahlen. Aber die Umsätze steigen auch, wenn weniger Menschen (überproportional) mehr Geld für Kinokarten ausgeben. Kein wirklich starkes Argument also. Foster sieht aber auch bei seiner Arbeit eine neue Tendenz zu sozialen Räumen. Ganz besonders übrigens in der Wissenschaft. Wenn Foster Gebäude für Wissenschaftler plant, stellt er fest: Wissenschaftler stellen keine Fragen nach Laboren. Denn die sehen sie als selbstverständlich an. Aber sie fragen nach “social spaces”. Denn neue Ideen entstehen weniger beim Brüten im stillen Kämmerlein, sondern vor allem beim zwischenmenschlichen und interdisziplinären Austausch. Foster kommt auch auf den „public living room“ zu sprechen. Beim public viewing zur Fußball-WM ist das Kollektiverlebnis gefragt – da hat auch das Kino eine Chance, findet er. Und noch eine Beobachtung fügt er an: „We can all work at home. Do we all work at home? Do we hell. We gather together because of the social richer congregating.” Foster schildert eine konkrete Zukunftsvision, die er vom Kino hat. Für ihn ist der Flughafen einer der Räume, die unsere heutige Zeit am besten beschreiben. Also stellt er sich Kinos an Flughäfen vor, die 20minütige Spielfilme zeigen, während man auf den Flug wartet. Nette Idee, das gab es aber früher schon an Bahnhöfen, es nannte sich AKI (Aktualitätenkino) und hat die Zeit nicht überdauert.

Wolf D. Prix von Coop Himmelb(l)au zeigt Bilder und Animationen von Kinos, die spektakulär gebaut sind, aber auf den ersten Blick nicht zum Verweilen anregen. Es handelt sich um Stadion- oder Messearchitektur, die am besten vom englischen Wort „vast“ beschrieben wird. Auf die Spitze getriebene Sony-Center. Sein Lieblingsentwurf gruppiert sich um eine gigantische überdachte Freifläche. Open Air ist zwar nicht die Neuerfindung des Kinos, aber zugegebenermaßen setzt es zumindest ein Trend. Im Open-Air-Kino erreichen alte Filme, die im geschlossenen Kino kaum noch jemand sehen wollte, teils ungeheure Zuschauerzahlen. Oft habe ich sogar das Bedürfnis, Open-Air-Kino erreicht vollkommen andere Zuschauer. Woran liegt das? Warum übersetzt das Freilufterlebnis eines Films das Kino in heutige Bedürfnisse?

Eine Merkwürdigkeit am Rande

Wer auf Multiplexe schimpft, muss auch auf digital schimpfen. Das passt gut zusammen und ich tue es auch gern. Vor allem, weil beides nicht schlecht gedacht, aber meist schlecht umgesetzt ist und einer argumentativen Zwangsläufigkeit folgt, der ich mich verweigere. Nun, einer der Keynotes-Redner spricht über eine MIT-Studie, laut der digitalisierte Bilder nicht in unserem Langzeitgedächtnis haften blieben. Bitte wie? Das würde man gern genauer wissen. Bis jetzt konnte ich dieser Studie leider nicht auf die Spur kommen. Denn die Lebenserfahrung sagt etwas anderes. Digitale Projektionen erschienen mir bis jetzt nicht flüchtiger als analoge, auch wenn sie mich inhaltlich oder technisch weniger beeindruckten als manche analoge. An der gewagten These gibt es auch noch einen anderen Haken: das menschliche Auge sieht überhaupt keine digitalen Bilder, denn es ist ein analoges Instrument. In Bits und Bytes codierte Bilder müssen erstmal wieder umgewandelt und in für uns wahrnehmbare Reize übersetzt werden. Wir schieben die Datenträger schließlich in tolle elektronische Geräte, nicht in den Mund.

Am Ende wird alles gut

Neben Prix‘ Monstrositäten nimmt sich die Vision von Marin Karmitz (MK2 Cinémas) gerdazu bescheiden aus. Doch der erste Eindruck täuscht. Seine Vision ist nicht architektonischer, sondern sozialer Natur – und wahrscheinlich gerade deswegen so überzeugend und so erfolgreich. Er erzählt, wie es ihm mit Kinos gelungen ist, das Gesicht von Stadtteilen und das Leben dort zu verändern: aus finsteren Ecken, wo man sich abends nicht aus dem Haus traute, wurde in jahrelanger mühsamer Arbeit wieder ein Lebensraum. Das Kino gab den Menschen dort einen Grund, auszugehen und sich aufzuhalten. Das Kino bildete einen neuen sozialen Raum, zog Menschen an. Diese veränderten nach und nach die Umgebung – und sich. Jugendliche, die sich erst als Störer ins Kino einschlichen, kamen später regelmäßig als reguläre Besucher – obwohl alle Filme in der Originalfassung oder als OmU liefen.

Nicht umsonst sagt Karmitz: „Kino ist Licht in jeder Bedeutung.“ Von allen Rednern bei den Keynotes scheint er derjenige zu sein, der tatsächlich „une autre idée du cinéma“ hat.

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