Mittwoch, 17. Oktober 2007

Fundsache

Wo wir nun schon einmal bei Kinos in fremden Ländern sind, möchte ich gerne eine kleine Fundsache präsentieren. Ausnahmsweise geht es diesmal nicht um Tucholsky, es ist Rafik Schami, bei dem ich fündig geworden bin. Der Auszug entstammt seinem Buch "Die Sehnsucht der Schwalbe"(2000), die Stadt, um die es geht, findet sich in Syrien: Damaskus.

"Mansur, ein alter Freund meines Vaters aus seiner Zeit in den USA, kam eines Tages mit viel Geld nach Damaskus und eröffnete den Kinopalast Las Vegas. So etwas hatte die Stadt bis dahin nicht gekannt: einen voll klimatisierten Kinosaal mit tausend Sitzplätzen, alle gepolstert und mit rotem Samt überzogen.

Mansur war ein Genie, dessen Vision vollkommen aufging. Vorher hatten wir nur zwei Arten von Kinos in Damaskus gehabt: Die einen waren billige, stinkige Spelunken, wo man als Junge besser nicht ohne Begleitung hinging. Mädchen durften solche Kinos ohnehin nicht betreten. Die anderen waren zwar feiner, doch sie waren klein und veraltet. Und wenn dort überhaupt mal ein guter Film lief, waren die Karten für die hundert oder zweihundert Plätze schnell ausverkauft. Als normaler Sterblicher hatte man gar keine Chance hineinzukommen.

Doch nun war mit dem Las Vegas ein riesiger Palast entstanden. Der Kinobesitzer besaß die besten Verbindungen zu allen internationalen Verleihern. Seine Filme waren Weltklasse - Bestseller der Kinogeschichte.

Die Leute standen Schlange vor seinem Haus, egal, was geboten wurde, denn schon allein der Besuch seines Kinos war ein Erlebnis."
So weit Rafik Schami in der Stimme seines Erzählers Lutfi. In unseren Kategorien würde man die erwähnten Kinos unschwer in Multiplex, Porno- und Provinz, in einem seltenen Fall vielleicht sogar als Programmkino einstufen. Doch bin ich in der syrischen Kinoszene nicht so bewandert, daß ich mir zutrauen würde, diese Maßstäbe so einfach dort anzusetzen.
Zumal auch die Datierung eher schwierig ist, zwar läßt sie sich vom Buch ableiten, doch mag Schamis eigene Erinnerung, da er in Damaskus aufwuchs, dort auch mit reinspielen. So oder so könnte es in den 1960er oder 70er Jahren gewesen sein.
Für Lutfi spielt das Kino selbst weiter keine tragende Rolle, doch lernt er dort die erste große Liebe seines Lebens kennen: eine Filmfanatikerin, allerdings eine von der melodramatischen Sorte. Und so verwundert seine Sehnsucht nicht, sich nach einer Weile wieder der Realität zuzuwenden - trotz tausend mit rotem Samt bezogenen Sitzplätzen...

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Ich tippe eher auf Fünfziger, aber ich weiß natürlich nicht, wie alt Schami ist und ob es in Syrien eine Kinokrise gab.