„Der spanische Realismus ist kein ‚Dokumentarstil’, sondern genau das Gegenteil. Die Wirklichkeit ist nicht nur das Sichtbare, sondern das, was im Unterbewußtsein schlummert, das Geträumte, Gewünschte und Vorgestellte.“ Obgleich einem Buch über die Filme Carlos Sauras entstammend, dem nach Luís Buñuel wahrscheinlich berühmtesten spanischen Filmregisseur, klingen diese Sätze wie ein Leitmotiv zu Guillermo Del Toros neuem Film Pans Labyrinth.
Der Pan
Der Originaltitel lautet El Laberinto del Fauno, doch ob man nun Pan, den Gott des Waldes und der Natur, oder Faunus, den Wolfsgott, in den Vordergrund stellt, es bleibt die ambivalente Besetzung dieser bocksbeinigen Figur. Er steht gleichermaßen für Fruchtbarkeit, Musik und Tanz, mithin ungezwungener Lebensfreude, aber ebenso für Unbeherrschtheit und Schrecken. Ursprünglich bekanntlich der griechischen, respektive römischen Mythologie entstammend, widmete die römisch-katholische Kirche einige Eigenschaften der Figur dem Teufel. Die katholische Kirche wiederum stellt jedoch einen der Eckpfeiler des spanischen Staates unter Franco dar: Selbst ein bocksbeiniges, hinkendes Wesen voller Widersprüche in Lehre und Handlung. Auch der Pan/Faun in Pans Labyrinth bleibt den ganzen Film über ambivalent. Er sagt das eine, aber die Konvention lehrt, daß zwielichtige Gestalten in der Literatur und in Filmen das jeweils andere meinen. Auch, wenn das Baumwesen sich hier letzten Endes als Werkzeug des Guten herausstellt, bleibt die Lehre, die er dem Kind vermittelt hat: das Mißtrauen.
Das Kind
Protagonistin des Films ist ein Kind – ungewohnt für das deutsche Publikum, das sich mit dieser Identifikationsfigur in einem „Erwachsenenfilm“ zunächst schwertut. In Spanien aber ist die Tradition der „Kinderfilme“ lang: Sie reicht insbesondere in den 1970er Jahren von Victor Erices El espíritu de la colmena (Der Geist des Bienenkorbs, 1973) über Carlos Sauras Cría Cuervos (Züchte Raben, 1975) bis zu Jaime Caminos Las largas vacaciones del 36 (Long vacations of 36, 1976), um nur die Bekanntesten zu nennen. Fast scheint Ivana Baquero, die Ofélia des Films, Del Toros Neuentdeckung von Ana Torrent zu sein, der Ana aus Sauras Cría Cuervos. Das oberflächliche Kinderspiel ermöglichte es der franquistischen Zensur zum Teil, über darunterliegende Systemkritik hinwegzusehen. Über den Umweg der vermeintlichen kindlichen Harmlosigkeit wurden die Dinge jedoch nur um so deutlicher ans Licht gebracht.
Ein Thema, das Del Toro auch variiert aufnimmt: Die Haushälterin des Capitáns bringt selbst zur Sprache, daß der Deckmantel der schwachen, unscheinbaren Frau ihre Kollaboration mit den Partisanen ermöglichte.
Erinnerungsarbeit
In Spanien wurde die (filmische) Vergangenheitsbewältigung nach Francos Tod 1975 zunächst zu einer Suche nach dem „dritten Weg“: viele Filme waren kompromißlerisch, versöhnlich, nach dem Motto: „Alle hatten irgendwie recht“. Man wollte dem erneuten Aufflammen der Differenzen von Republikanern und Altfranquisten vorbeugen. Eine genaue Darstellung der Kriegsgreuel und Diktatur-Grausamkeit fehlte zugunsten verschlüsselter Andeutungen und später dem Lächerlichmachen der ewig Gestrigen. Zwar gab es auch mutige Filme, doch daß noch Jahre nach Francos Tod und dem Ende der Zensur ein Film, der die Wahrheit aufdeckt, Gefahr für die persönliche Sicherheit darstellen konnte, zeigt das zu trauriger Berühmtheit gelangte Beispiel der 1997 verstorbenen Filmemacherin und Politiker Pilar Miró. Vor dem Hintergrund der Anfang der 1980er Jahre in Spanien aktuellen Debatte um Folterungen durch die Guardia Civil im Baskenland, fühlte die Polizeieinheit sich durch den Film El Crímen de Cuenca (Das Verbrechen von Cuenca, 1981) bedroht. Miró erzählt darin von der brutalen Folterung eines Untersuchungshäftlings durch die Guardia Civil – die sich jedoch Jahrzehnte zuvor abgespielt hatte. Der Film wurde drei Jahre lang in Spanien verboten, und die Filmemacherin vor ein Militärgericht gestellt.
Der Bürgerkrieg 1936 bis 1939 und die franquistische Diktatur bleiben ein Trauma der spanischen Geschichte, an dem sich über Jahrzehnte hinweg die Künstler über alle Kulturbereiche hinweg abarbeiten. Wo aber liegt der Bezug eines Mexikaners zu diesem Thema? Guillermo del Toro, 1964 in Guadalajara geboren, lernte in seiner Kindheit viele spanische Emigranten und ihre Geschichten kennen, die ihn bis heute beschäftigen. Das Thema des spanischen Bürgerkriegs hat er bereits in einem anderen Film verarbeitet, ebenfalls mit einem Kind als Bezugsfigur. The Devil’s Backbone (in Deutschland nur auf DVD erschienen, 2001) ist eine Geistergeschichte, was bei manch einem Publikum falsche Erwartungen weckt. Denn der Film ist nur oberflächlich ein Vertreter des Genres Horror, das „Geträumte, Gewünschte und Vorgestellte“ handelt vom Begreifenlernen und Durchschauen: „Ein Geist, ist ein schrecklicher Moment, der dazu verdammt ist, sich ständig zu wiederholen, etwas Totes, das von Zeit zu Zeit lebendig erscheint“, spricht der Lehrer im Film zu seiner Klasse.
Der Name Francos erscheint im Film übrigens nur zweimal: Einmal auf Plakatwänden, das andere Mal bei der Verteilung der Brotration an die Bewohner: Unser täglich Brot auf diktatorisch.
Gewalt
Wieder einmal überrascht die FSK mit ihrer Einstufung des Filmes „Ab 16 Jahren“. Die Deutlichkeit der Gewalt, die in Pans Labyrinth zelebriert wird, hätte vielleicht auch eine rigidere Maßgabe gerechtfertigt. Entspannende Sequenzen existieren nicht – selbst die Feen essen Fleisch. Um sinnlose Gewalt handelt es sich freilich nicht – die der Geschichte eingeschriebene Historizität, und selbst der Bezug auf den ursprünglichen Märchencharakter legitimieren die verstörende Darstellung. Auch Sauras Ana y los lobos (1972) endet mit einem Kopfschuß. Ebensowenig ist es aber eine sadistische Grausamkeit, die Capitán Vidal als der eigentlich „Böse“ des Films übt. Seine Taten gehen weit über Sadismus hinaus. Bei de Sade stellt die Triebbefriedigung genauso wie das Überschreiten gesellschaftlich akzeptierter moralischer und ethischer Grenzen den Hintergrund für Gewalt; Del Toros General foltert und schlachtet aus Pragmatismus: gefühllos kalt, gleichgültig. Nicht einmal Verachtung leistet er sich.
Dem gegenüber stehen die republikanischen Partisanen, durch ihre Gegenüberstellung mit Vidal als die „Guten“ gekennzeichnet. Doch die „Guten“ bei Del Toro sind nicht gut, weil sie besser, humaner handeln als die „Bösen“; sie sind die Guten, weil sie (zufällig?) für die moralisch bessere Sache kämpfen. Deswegen stellen sie auch keine Identifikationsbilder dar – sie sind sympathisch, nehmen aber einen relativ kleinen Teil der Präsentation ein.
Fazit
Was also ist spanisch an diesem Film über ein dunkles spanisches Geschichtskapitel? Sicherlich das Thema, ebenso der innermediale Bezug. Die Machart – manchmal. Wenn etwa das Jahrzehnt gekennzeichnet wird anhand eines Autos, das eine einsame Landstraße entlangfährt. Solche Einstellungen finden sich nur minimal variiert unter anderem genauso in The Devil’s Backbone wie in La prima Angélica (Die Cousine Angelica, Carlos Saura, 1972). Oder das Gruppenbild mit (in diesem Fall: toter) Dame inklusive Dienstboten vor dem Herrenhaus. „Unspanisch“ ist der sukkzessive Verlust der gesamten Familie, obwohl man auch dies als Kritik am Franco-Staat deuten könnte, dessen Grundmauern Kirche, Familie, Militär zugleich die Begrenzungen der Individualität und der physischen wie psychischen Gesundheit bilden.
Trotz der düsteren, mondscheinblauen Regenrealität und der dieser entgegengesetzten fleischfarbenen, blutdurchtränkten Märchenwelt, die beide eine amerikanische Bildersprache pflegen (bis hin zu Ofélias Disney-Alice-im-Wunderland-Kleid), ist Pans Labyrinth auf eine Weise ganz gewiß spanisch: Der Aufenthalt im Geträumten, Gewünschten, Vorgestellten – außerhalb der sichtbaren Realität – ist kein Eskapismus. Die Welt hinter den Spiegeln ist keine bessere, sie ist nur eine besser verständliche.